Astro-Logics IX: Der Kreis und das Ganze
Wir leben in einer Zeit der Überinformation. Dank der rasanten Entwicklung des Internets steht uns heute im Prinzip das gesamte Menschheitswissen zur Verfügung, wer nur lange genug nach etwas sucht, wird in aller Regel auch fündig. Astrologisches Wissen bildet hier keine Ausnahme, im Gegenteil. Das Ganze hat nur einen Haken – wenn der Raum immer größer und weiter wird, dann nimmt man sich oft auch weniger Zeit, um an einzelnen Stellen ausgiebig zu verweilen. Dann jedenfalls, wenn man sich von dem Überangebot dazu verleiten lässt, die Antworten auf bestimmte Fragen nur noch dadurch zu finden, in dem man immer mehr dieser Wissens-Schnipsel in einer endlosen Jagd ansammelt und hofft, dass sich diese vielen Teile von alleine zu einem Gesamtbild zusammen fügen würden.
Da die Ansammlung von Wissen dem Merkur-Prinzip untersteht, ist es im Prinzip auch durchaus in Ordnung, alles Verfügbare einfach nur als Information aufzunehmen. Sinngebend wird es aber erst durch das Jupiter-Prinzip, das in all dem einen roten Faden finden muss. Und praktisch anwendbar erst durch Saturn, dann wenn alles Überflüssige wieder auf ein paar wenige, unverzichtbare Basics reduziert wird, um die eigentliche Essenz des Ganzen zu erfassen.
Das astrologische System macht hier keine Ausnahme. Wenn man all die vielfältigen Teilinformationen nur aneinander reiht, dann landet man schnell im Universum der Deutungs-Kochbücher. Eigene Ableitungen und Schlüsse über Inhalte und Themen, die dort nicht angesprochen werden, haben keinen tragfähigen Boden. Man ist allenfalls in der Lage, korrekt zu zitieren, wirklich praktisch arbeiten kann man damit aber selten bis nie.
Dabei ist es simpel und einfach. Das astrologische Basis-Modell ist ja keine Erfindung von einigen Wenigen. Es hat sich im Laufe von Jahrtausenden aus den Beobachtungen unzähliger Menschen aus verschiedensten Kulturkreisen, Epochen und Generationen entwickelt. Und diese Beobachtungen wurden ausgedrückt in Bildern, in Formeln, mithilfe derer man wiederum neue Assoziationen entwickeln konnte. Im Prinzip ist hier also genau das geschehen, was die modernen Wissenschaften heute noch für sich beanspruchen.
Betrachtet man aber deren Erkenntnisse, oder besser, die Prinzipien auf denen ihre Erkenntnisse basieren, wird man feststellen, dass vieles davon schon im Grundkonzept der Astrologie enthalten ist. Allerdings in einer Sprache, die statt abstrakter Formeln und Erklärungen, einfache Bilder benutzt.
Grundlage astrologischer Arbeit ist unbestritten das Horoskop vor dem Hintergrund des Zodiaks. Mit den darin abgebildeten Strukturen arbeiten wir, daraus leiten wir Aussagen ab. Heute reicht ein Knopfdruck, um ein komplexes Stundenbild zu erstellen, vor nicht allzu langer Zeit musste aber jeder Astrologe ein Horoskop in mühseliger Kleinarbeit nicht nur berechnen, sondern auch zeichnen. Dieser kreative und auch schöpferische Prozess mag dann durchaus zu einer Art Dauer-Meditation über die Grundlagen geführt haben. Und diese Schritte einmal nachzuvollziehen, kann auch heute noch hilfreich sein.
Das leere Blatt
Genau damit fängt ja alles an. Wir haben ein leeres Blatt vor uns, dass im Prinzip den undefinierten Urzustand allen Seins darstellt. Hier kann noch nichts erkannt und unterschieden werden. Und gleichzeitig bietet ein leeres Blatt unzählige Möglichkeiten etwas darzustellen.
Ein Teil dieser Unendlichkeit wird jetzt, durch das Symbol des Kreises in einen „Container“ gepackt. Dabei ist es egal, wo genau sich dieser Kreis nun befindet, denn wenn wir das leere Blatt mit der potentiell unbegrenzten Möglichkeit des Seins gleichsetzen, einem Sein jenseits von Zeit und Raum, einem Zustand, der noch vor dem oder jenseits des ursprünglichen Schöpfungsaktes liegt, dann beinhaltet jede Stelle dieses Raumes „Alles“.
Der Container, der Kreis, den wir hier zeichnen, schließt also im Prinzip nichts aus, er steht nicht nur für bestimmte Inhalte oder Prinzipien. Innerhalb des Kreises findet sich genau dasselbe, wie außerhalb. Unbegrenztes Sein, jenseits von Raum und Zeit. Trotzdem umfasst er jetzt einen bestimmten Ausschnitt und schafft dadurch alleine schon ein Bezugssystem.
Was nun könnte dieser Kreis darstellen? Vielleicht unser Universum als speziellen Teil innerhalb unzähliger Universen? Also die „äußere Welt“, in der wir leben und existieren? Oder bezieht sich dieser Kreis eben auf das Erleben selbst, auf die Möglichkeit eines individuellen Bewusstseins, dass sich selbst innerhalb eines scheinbar begrenzten Rahmens definiert? Die Beantwortung dieser Frage ist gerade am Anfang solcher Überlegungen wesentlich.
Denn wenn wir das astrologische Modell ausschließlich als Beschreibung einer fass- und greifbaren Wirklichkeit verstehen, so wie es die Naturwissenschaften innerhalb ihrer Erklärungsmodelle tun, dann stößt man früher oder später auf Widersprüche. Und wird feststellen, dass diese Bildersprache zu allgemein ist, um konkrete und detaillierte Außenwirklichkeit abzubilden.
Betrachtet man es aber als ein Symbol für Bewusst-Sein (im Unterschied zu Bewusst-Heit), dann macht plötzlich vieles Sinn, was sonst innerhalb der weiteren Entwicklung dieses Bildes unverständlich bleiben würde.
Genesis
Vorab steht aber auch hier eine Klärung. Was genau ist mit dieser ursprünglichen Bewusst-Heit gemeint? Üblicherweise verstehen wir darunter hauptsächlich mentale Prozesse wie zB das Denken, im Prinzip eben all das, was „nicht-materiell“ ist und sich nur innerhalb unseres eigenen, persönlichen Wahrnehmungsraumes abspielt. Gefühle und Empfindungen werden dabei häufig dem Begriff der Seele zugeordnet, alles andere unserer Körperlichkeit. Hinzu kommen noch Begriffe wie Unter-Bewusstsein und die moderne Psychologie, die sich vorrangig mit diesen geistigen Grundlagen beschäftigt, hat noch eine Vielzahl weiterer Zuordnungen eingeführt.
Aber all das sind schon spezielle Ausdrucksformen, von etwas, das viel grundlegender ist.
Im tibetischen Buddhismus wird dieser grundlegende, ursprüngliche Zustand als Kun Je Gyalpo bezeichnet - der König, der für alles verantwortlich ist. Nichts existiert außerhalb davon, alles entsteht aus diesem ursprünglichen Gewahrseins- Geist. Und mit alles ist hier auch alles gemeint, da gibt es keine Hintertürchen oder philosophische Spitzfindigkeiten. Alles meint: die Gesamtheit unserer möglichen Erfahrungen, ob sie sich nun auf scheinbar innere Prozesse wie Denken und Empfinden beziehen, oder auf scheinbar äußere, materielle Erscheinungen. Als religiöser Mensch, der einer bestimmten Glaubensrichtung zugeneigt ist, mag man dann auch vom Geist Gottes sprechen, dem höchsten Schöpferprinzip. So oder so sind hier Einschränkungen und Unterteilungen weder nötig und noch sinnvoll, ob wir nun den Begriff Gott oder Buddha-Natur verwenden.
Diesem ursprünglichen Gewahrsein wohnen alle Eigenschaften inne, die wir, in unserem etwas verwirrten Seins-Zustand, fälschlicherweise den Erscheinungen selbst zu ordnen. Wenn wir zum Beispiel in die Welt blicken, dann sehen und spüren wir Raum oder Räumlichkeit. Manchmal in eingeschränkter Form, wenn wir uns zum Beispiel in einem Zimmer aufhalten, manchmal, in freier Natur beim Betrachten des Himmels, erscheint uns dieser Raum unbegrenzt, vor allem wenn wir nachts ins Firmament der Sterne blicken.
Irrigerweise sind wir aber meist überzeugt, dass diese Fähigkeit und Qualität von Raum, nur im Himmel oder im Universum selbst zu finden ist. Aus Sicht des großen tibetischen Lehrers, Padmasambhava, liegt dieser Zuordnung aber ein fundamentaler Irrtum zugrunde.
Das ganze sichtbare Weltall versinnbildlicht nur den EINEN Geist. Alle Erscheinungen sind in Wahrheit nur Spiegelungen dessen, was dieser eine Geist erschaffen hat.
Bezogen auf unser Beispiel mit dem Raum bedeutet das nichts anderes, als dass „unendlicher Raum“ eine der Eigenschaften dieses einen Geistes ist. Und genau das im Zusammenhang mit Himmel und Weltall zu erfahren und wahrzunehmen, ist ebenfalls nur eine seiner Eigenschaften. All das was wir mit unseren Sinnen „dort draussen“ erfassen, in einer von uns scheinbar unabhängigen Welt, ist nichts anderes als der unbegrenzte, vielfältige Ausdruck dieses einen Schöpferprinzips, dass wir Geist, Seele, Buddhanatur oder Gott nennen.
Wie sich das letztendlich als Erfahrung zeigt, ist nicht mit unseren herkömmlichen Begriffen und Worten zu beschreiben. Alleine das Wort Geist könnte das falsche Bild erzeugen, es handle sich bei all dem nur um einen Traum, eine Illusion. Als gäbe es diese Wirklichkeit, in der wir tagtäglich existieren, nicht. Aber selbst im Traum erleben wir manches sehr körperlich, können beängstigende Bilder auch Auswirkungen haben, die weit über den Traum hinausgehen. Und alles was wir innerhalb eines Traumes tun, hat auch dort Konsequenzen.
Der Begriff „Illusion“ im Zusammenhang mit unserem Alltags-Bewusstsein bedeutet nicht, dass unser Erleben grundsätzlich falsch ist, dass es all das, was wir sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen nicht gäbe. Falsch ist lediglich die Zuordnung dieser Erfahrungen und ihre Aufteilung in äußere und innere Phänomene, die in keinem Zusammenhang miteinander stehen. Hier bin ich, auf dieser Seite der Welt, dort draußen, außerhalb von Ich, befindet sich der ganze Rest.
Sobald man sich aber die ehrliche Frage stellt, wo denn dieser ganze Rest wäre, wenn da niemand ist, der „ihn“ wahrnimmt, sieht, hört, riecht usw., landet man in einem Dilemma. Denn natürlich existiert die Welt so gesehen ebenfalls nur „in uns“, als inneres Bild, als Reflektion. Wäre da niemand, der diese äußere Welt wahrnehmen würde, könnte man zwar weiterhin vermuten, dass sie trotzdem existiert, aber einen Beleg dafür gäbe nicht. Denn selbst wenn eine zweite Person hinzu käme, um zu bestätigen, dass diese Welt auch ohne „meine“ Wahrnehmung weiter existieren würde, könnte ich argumentieren, dass sie das aber nur innerhalb des Bewusstseins dieser Person tut. Fällt auch die Wahrnehmung dieser Person weg, hätten wir wieder dasselbe Dilemma.
Daraus dann zu schließen, dass die Welt dort draußen überhaupt nicht existiert, wäre aber genauso falsch. Denn auch das ist nur eine Vermutung, nur eine mentale Spekulation.
Diese Illusion von innen und außen als unabhängige Bereiche kann eben nicht einfach dadurch aufgelöst werden, in dem man einen der beiden Bereiche negiert. Aber man kann durch eine entsprechende Reflektion zumindest eines eindeutig feststellen – ohne unser Bewusstsein, ohne diesen Geist, wäre ein Erleben von was auch immer nicht möglich. Er ist alles, auf das wir uns im Moment beziehen können, alles mit dem wir arbeiten können, was wir wirklich untersuchen und betrachten können. Wie man diesen Geist nun nennt, spielt keine Rolle, solange man sich darüber klar ist, dass eben nicht nur unser persönliches Ich-Bewusstsein damit gemeint ist. Dieses Ich ist im Prinzip so etwas wie ein Kind des großen Geistes, der alles umfasst. Ein spezieller Ausschnitt mit einer sehr individuellen Perspektive. Dieses Kind hat lediglich vergessen, dass es neben der eigenen Perspektive auch noch unendliche viele andere gibt. Und nur deshalb ist es in seiner eigenen Erfahrung eingeschränkt.
Vergleichbar ist das vielleicht am ehesten mit einem Kinobesuch. Anfangs, bevor das Licht ausgeht, wissen wir noch genau, wer wir sind und wo wir uns befinden. Sobald der Film anfängt, vergessen wir das in sehr kurzer Zeit. Wir leben plötzlich in diesem Film, identifizieren uns mit den Figuren und ihren Handlungen, erleben Freude und Spannung. Aber all die Emotionen, die wir auf der Leinwand vermuten, und die dem ganzen Geschehen erst ihre Lebendigkeit und Faszinationen geben, finden nur in unserem Geist, in unserem Bewusstsein statt.
Erst am Ende des Films wachen wir aus diesem Traum auf, sind wieder Kinobesucher und wissen, dass wir lediglich eine Illusion betrachtet haben. So ähnlich mag es uns vielleicht auch am Ende dieses Prozesses ergehen, wenn die grundlegenden Irrtümer erkannt sind. Sobald das geschieht, zeigt sich das was ist, von ganz alleine. Dann sind aus christlicher Sicht Vater und Sohn wieder vereint, aus buddhistischer Sicht verschmilzt das Bewusstseins-Licht des Kindes wieder mit dem allumfassenden Licht der ursprünglichen Mutter.
Dieser unscheinbare Vorgang, das Zeichnen eines Kreises auf einem leeren Blatt Papier, bietet also schon jede Menge Stoff zum Nachdenken und zur Reflektion. Und man ahnt vielleicht schon, wie weitgehend und umfassend diese Reflektionen noch werden, wenn man Schritt für Schritt die weitere Teilung des Kreises, die Einbindung der Planeten und ihre Beziehungen untereinander, ähnlich auf sich wirken lässt.
(wird demnächst fortgesetzt…)
Die Loop! Serie „Astro-Logics“ richtet sich vor allem an Menschen, die sich dem Thema Astrologie auf eine neue Art und Weise nähern wollen. Aus diesem Grund werden darin unter anderem astrologische Basics erklärt, die vielen Lesern höchstwahrscheinlich schon geläufig sind. Dabei geht es aber weniger um die Wiederholung von Erklärungen, die man in jedem Standardwerk über Astrologie nachlesen kann, sondern um neue Perspektiven, Herangehensweisen und Denkanstöße.
Hier geht es zu den anderen Teilen von Astro-Logics:
Astro-Logics: Zeit und Raum
Astro-Logics II: Was ist Zeit?
Astro-Logics III: Venusjahre
Astro-Logics IV: Es leuchtet
Astro-Logics V: Woher kommt die Zeit?
Astro-Logics VI: Bilderwelten
Astro-Logics VII: Panta rhei
Astro-Logics VIII: Das scharfe Schwert
Bilder: Titelbild - By Tomascastelazo (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons; Apollean Gasket -By Tomruen (Own work) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons