Rilkes Herbst
Wenn sich in Gedichten das Horoskop des Autors in anderen Worten erfindet: Es wurde Herbst 1902, Rainer Maria Rilke hatte Saturn Trigon Pluto und noch dazu Saturn auch eng in einem Quadrat zum Widder-Chiron laufen. Eine Begegnung des Herrn der Dauer mit dem Herrscher des Schmerzes, die wir oft auch "die Untröstlichkeit" nennen. Er war jung, wegen eines Arbeitsprojekts in Paris getrennt von seiner Frau und vermisste sie offenbar sehr. Und dann entstand bei ihm, wie so oft, die Kunst aus dem Leid. Das Gedicht "Herbsttag" ist eins seiner schönsten und eindringlichsten.
Wie Musik oder eine zarte Spiegelung auf einem tiefen Fluss wandert hier jemand durch den Anbruch der düsteren Zeit des Jahres. In Bildern, die vom Übergang des prallen Seins in die Vergänglichkeit der Materie handeln und Rilkes sehnsuchtsvollen Neptun auf 0° Stier in 8 am eindrucksvollsten ausdrücken, der ja an sich schon alles Stoffliche transzendiert und in Träumen auflösen muss.
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Rilke hat als Wintergeburt ohnehin diese Anbindung an alles Endliche, an Werden und Vergehen - sein Skorpion-Jupiter und Skorpion-Merkur finden sich darum vielleicht auch schon in den ersten Zeilen, unter dem neptunischen Stempel, wo das Seelische die Verwurzelungen in allem massiv auswäscht.
Aber auch die Fülle, Reife und Schwere der Zeichen des 3. Quadranten, die immer auch in Abschiede geleiten, und seines 2. und 9. Hauses, die beide von Venus beherrscht werden (und darum indirekt von seinem 0° Stier-Neptun gefärbt), sowie Stier-Pluto in 9 als von der inneren Quelle aus verwandelnder, fast weiblich gebärender Gott, begegnen uns hier als Szenario:
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Die große Wehmut, die ein Mitschwingen zwischen Mensch und Menschen erst schafft, finden wir häufig bei starken Bezügen eines Horoskops zum Haus 12 oder bei dominanten Neptun-Aspekten. Bei Rilke (rechts Radix, Rodden Rating A via Astro-Databank) liegt dieser Transzendenz unter anderem das Chiron-Uranus-Trigon zugrunde, bei einem Uranus genau auf Spitze 12. Dazu befindet sich die schwärmerische Schütze-Sonne ebenso lyrisch (und mit Lilith leidensfähig) in der Verwirklichung auf der Hausspitze 4 der Empfindung. Sein schönes und auf die Begegnung bezogenes Venus-Neptun Trigon (Fische-DC) tut ein Übriges.
Die wohl bekannteste Strophe von "Herbstag" dann redet auch von der massiven Auflösung alles Irdischen. Ein Bild, in dem sich noch einmal Rilkes Neptun in 8 findet, der zwischen Hunger und Erfüllung schwankt und für eine ganze Generation so bezeichnend ist. Menschen, die dann beim nachlaufenden Uranus in Stier zwei Kriege erleben sollten:
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke war ja Schütze, denen man ein stürmisch-joviales Temperament nachsagt. In seinem Fall allerdings findet man sehr, sehr deutlich die Wichtigkeit des Sonnen-Herrschers (wie auch des AC-Herrschers) im Ausleben widergespiegelt: Wo einer von ihnen in einem Radix widersprüchlich zur sonstigen "Temperatur" steht, wird der Betreffende auch außen sichtbar und innerlich deutlich von ihnen geprägt sein. Bei Rilke befinden sich in seinem sonst so luftig-feurigen Horoskop ja beide Herrscher der beiden "großen Überschriften" der Persönlichkeit nicht nur im Feld des Selbstausdrucks, Haus 3, sondern auch noch im Skorpion. Da, wo es immer auch um Leben um Tod und wieder Leben geht, nämlich Auferstehung. Dem seelischen Zeichen der tiefsten Transformationen, wo aus Schwärze durch Druck erst Gold wird und aus dem Tod ein neues Dasein.
Bilder (bearbeitet): Pixabay + Wikimedia Commons - Gedicht aus "Das Buch der Bilder", S. 48