S-Merkur: Mythos vom "Loslassen"
“Nichts geht jemals weg, bis es uns lehrt, was wir wissen müssen.”
(Pema Chödrön).
Merkur ist wieder in den Skorpion gewandert. Zeit, noch einmal eins der beliebtesten Gebote anzuschauen, das seelische Probleme im Narzisstischen New Age für "geistige Fehler" hält, die es zack-zack auszumerzen gilt. Was man angeblich auch ganz allein kann, durch ordentliche Selbstermächtigung. Gerade in den Achsen Jungfrau/Fische und Stier/Skorpion blühen ja gleichzeitig viel Schmerz und Sehnsucht nach Heilung. Ein Bewusstsein für das Schwere, das ein hyperflexibler Merkur im Rücklauf dann leicht mit ToGo-Lösungen überhäuft (die den Erfindern viel Geld bringen, aber wenig Erfolg sonst).
Wie auf Kommando tauchen also jetzt auch an allen Ecken wieder allerlei "Traumata" auf (womit inflationäre Psycho-Speech bloß das meint, was einen extrem stört an sich selbst und anderen, Alltags-Kram, der dann zum leidigen Denkmal erhoben wird). Gleichzeitig heben Spirit-Werber und Fake-Wissenschaftler der New-Thought-Bewegung wieder den riesigen Zeigefinger und kommen einem mit den meist missverstandenen, seichtesten Dogmen und Easy-Going-Patentrezepte der "spirituellen" Szene:
Du musst endlich mal versuchen, all das loszulassen!
Vorab: Das funktioniert unglücklicherweise selten bis nie so, wie es da angeordnet wird, weil Festhalten im seelischen Kontext ja durchaus eine Weile seinen Sinn macht. Wir müssen uns mit dem beschäftigen, was uns seelisch auf seine Weise beschäftigt, um es einzuordnen und zu verarbeiten. Skorpion, auf den sich unser Bewusstsein gerade mit Merkur als Untermieter tendenziell so stark ausrichtet, ist (wie eine liebe Freundin immer sagt) auch das "Pattex"-Zeichen. Die 8. Phase und ihr Herrscher Pluto haben mit seelischen Fixierungen auch auf Verletzungen zu tun, die einem beim Merkur im Lauf durchs Zeichen häufig einfach bewusster werden. Übrigens vor seiner Wende doppelt gern. Das kann dann in der Schärfe sogar an Besetzung von bestimmten schmerzhaften Themen erinnern.
Denn Skorpion beschreibt auch emotional bindende Konzepte und damit die Muster des inneren "Festhaltens" und Verharrens, bis eine Erfahrung "durchfühlt" wurde und damit endlich integrierbar wird. Wonach sie einen nicht immer wieder in ihren Bann zieht, obwohl sie so schmerzhaft war. Irgendwann wird sie sich später in einen sinnvollen Teil der Psyche und des Lebenslaufs verwandeln. Wenn man sich dem Fühlen nicht entgegenstellt und es einfach im Kopf verneint. Zum Beispiel durch Konzepte wie: Ich muss das sofort loslassen. Denn kaum etwas könnte kontraproduktiver sein, wenn es noch gar nicht an der Zeit ist.
Wie all das wirkt und ob "Loslassen" nützt, das schauen wir uns hier aus dem feierlichen Anlass des bald rückläufigen Merkur am besten mal etwas genauer an. Zunächst: Ja, das Gegenteil von Festhalten ist tatsächlich das Loslassen, das sich irgendwann, in den inflationäen Zeiten der Pop-Psychologie für den Hausgebrauch aber zum leeren Schlagwort entwickelt hat. Ich kann nicht loslassen. Ich müsste loslassen. Wieso lässt sie ihn nicht einfach los? Warum will er sie nicht loslassen? Ja, weshalb? Weil Festhalten genau so sinnvoll ist und seine Zeit braucht. Wo blieben wir, wenn in uns alles vorbei raste? Emotionales passiert nicht an der Oberfläche und wir haben zwar als Menschen viele Kontrollwünsche demgegenüber, was uns da treibt, aber wenig Zugriff. Wir sind keine Maschinen und das Seelische ent-wickelt sich in uns, nicht wir entwickeln es. Genausowenig wie ich bewusst an dem festhalten würde, was ich gern losließe, damit es mich endlich loslässt und ich mich wieder als steuerbar empfinde. Das Loslassen ist im emotionalen Skorpion noch eine Idee, eine Theorie, nur eine Krücke, als hätten wir die Macht. Kein Klickschalter für mehr Glück.
Plutonische Erfahrungen, die nicht umsonst in den Abgründen der Seele und ihrer Bindungen wohnen, sind nun mal charismatisch, oft schmerzend, magisch tief, manisch obsessiv, verbissen und manchmal fanatisch in ihren ewigen Wiederholungen. Sie sind die emotionale Mühle, in der wir immer wieder unsere Erlebnisse zermahlen, bis sie verarbeitbar genug geworden sind, dass wir sie unseren Selbst- und Weltbildern einpassen können. Tiefer und tiefer. Erst weh. Dann da. Ohne den anfänglich unendlichen Schmerz. Das nennt man Transformation oder Wandlung, im Gegensatz zu den schnellen, radikalen Änderungen im Wassermann. Der Witz in den auf Loslassen gezielten Forderungen nach schneller Veränderung ist nämlich: So radikal, wie man sich "Loslassen" von irgendeinem zutiefst erschütternden Erlebnis oder Verbindungen auch vorstellt und wünscht (Schnipps! Weg!), geht es hier noch nicht. Das Loslassen sitzt ja gar nicht in der 8., sondern erst in der 11. Phase des Tierkreises. Wassermann steht nun aber im Quadrat zum Skorpion und darum wird es im Skorpion, also mitten im Verarbeitungsprozess, der unangenehm sein kann, auch so schwierig. ES einfach zu tun, kann unmöglich sein. Ich lasse los und es klebt und klebt weiter.
Denn im Emotionalen funktioniert kein geistiger Zugriff als große Wunden- oder Wunderlösung.
Außerdem: Loslassen "muss" man in dem Sinn nur das, was man loswerden "will". Weil etwas einen gefangenhält, gegen das man sich schon mental entschieden hat. Wenn es wehtut. Es soll weg. Etwas anderes in einem will es aber lieber behalten. Dieses seelische Klemmen mag man nicht, den Sog ins Leid. Wenn der Mensch aber ein Auto wäre, wären Wasser und Erde die niedrigeren Gänge. Langsamer. Feuer und Luft die höheren. Dann arbeitet eben der schnelle Merkur als Luftprinzip mit Mars und Sonne wie verrückt und glaubt, "er muss nur unbedingt loslassen". Aber weil das bleibt, wogegen man sich wehrt, wird ein Schuh aus dem Loslassen so oder so erst viel, viel später. Als Ergebnis des schwierigen, langen Prozesses, unangenehme Erfahrungen zu integrieren. Mach doch einfach! zieht hier nicht.
Emotionale Prozesse erlebt man, steuert sie nicht, auch wenn man sich einbildet, sie kontrollieren zu können oder ihnen geistig weit voraus ist. Die Seele, wie sie sich in den drei Wasserzeichen ausdrückt, hat ihre eigene Zeit und eigene Räume - und ein viel langsameres Tempo, als sich Feuer/Luft = Energie/Impuls/Denken das in ihrer Hochgeschwindigkeit als Prinzip vorstellen können. Sie schwebt dem Denken hinterher. Sie frustriert und justiert das wenig demütige Denken, wenn sie sich in ihrem Tempo ganz anders mit ihren Schmerzen ausbreitet.
Alles, was Skorpion beeinhaltet, braucht daher in seiner emotionalen Verbindlichkeit erst einen Sinn für die Verarbeitung wichtiger Erfahrungen, der zeitlich wiederum Raum benötigt. Loslassen dann, danach, das ist uranisch. Versuch mal, einen Kugelschreiber loszulassen, den du festhältst. Es gibt keinen Versuch, nur das Tun. Man lässt los oder eben nicht, wenn und weil der Geist und die Seele an einem Strang ziehen. Keine Änderung passiert, solange das Unbewusste noch sein Veto einlegt. Wenn wir noch nicht durch sind. Deshalb eignet sich als psychisches Rezept das Loslassen für die NÖTIGE Phase des skorpionischen Klebens an etwas oder jemandem auch ganz und gar nicht.
Loslassen entwickelt sich anders - durch ein Herausmutieren über Schütze und Steinbock vom Skorpion aus, wo man noch die ganze Tiefe der nicht integrierten Erfahrung er-lebt. Zur Not eben wieder und wieder. Bis man über eine neue Vision = Schütze (So hätte ich es lieber und die Energie gebe ich hinein!) und deren Umsetzung = Steinbock (So tun als ob - Handeln, als könne man es schon anders) im Wassermann ankommt. Dann Cut. Man lässt los - denn es lässt uns von selbst los. Und erst dann ist man frei von dem, was man loswerden wollte. Manche spirituell "Wissenden" beschreiben diesen angeblich so einfachen Loslass-Prozess mitten in leidvollen bis traumatischen Erfahrungen mit dem Bild des Sysiphos mit seinem Felsbrocken vorm Berg oder des Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt. Sysiphos hatte übrigens vorher den Tod gefesselt, was sein Ticket für eine Rückkehr aus der Unterwelt wurde, wofür er dann bestraft wurde. Und Atlas musste das Himmelsgewölbe tragen, weil er am Titanenkampf teilgenommen hatte.
Alles sehr plutonisch. Aber Loslassen ist auch, allem sein Los, sein Schicksal lassen.
Dass beide Helden auch nicht einfach ihre Strafen abgebrochen haben - Motto: "Tschüß, Felsbrocken und Weltkugel!" - wundert einen nicht. Denn in den Vorgängen (hier: der Strafe = destruktive Sicht) steckt von konstruktiver Seite ja immer auch ein zarter Ausgleich. Skorpion beschreibt von daher mit seiner Phase auch die seelischen Muster des noch nötigen Festhaltens, bis etwas durchgekaut (Stier gegenüber) und nutzbar gemacht wurde. All die "kleinen Tode" im emotionalen Leben, die Menschen tief verwandeln können und in deren Umraum man manchmal zwanghaft alte Trigger aus der Kindheit bis ins Erwachsenenleben wiederholt.
Bis sich ihr Sinn gezeigt, ihre Energie sich aufgebraucht hat. Und man langsam versteht und bereit und fähig wird, nach der inneren Beschädigung seine Erfahrung nicht mehr als Defizit, sondern auch als Bereicherung zu sehen. Was heißt, die neuen Einsichten daraus so konstruktiv in seine Zukunft zu integrieren (Schütze), dass wieder mehr zielorientieres, sicherndes, strukturierbares Handeln (Steinbock) möglich wird. Und am Ende die tatsächliche geistige, blitzschnelle Ablösung in etwas Neues hinein entsteht (Wassermann), die man für mehr Unbegrenztheit (Fische) im Sein danach benötigt.
Was ich damit sagen will: Bei Merkur im Skorpion, der bald "dreht" und noch mal zurückläuft in die Waage, kann es sein, dass viele hundertmal durchgenudelte Schmerzen des Gefühlten sich wieder melden. Oft haben sie mit Demütigungen zu tun, mit Treue, Loyalitäten, Ohnmacht, Druck der Macht, Verbindlichkeit oder nicht. Und damit, einfach immer wieder im Kreislauf festzustecken: Was ich auch tue, ich werde es einfach nicht los. Warum das so ist? Weil all diese Themen Hinwendung wollen, keine Wegbewegung. Weil auch "negative" Gefühle Stufen auf dem Weg sind und sich bloß verstärken, wenn man sie durch einen großen Switch versucht abzuschalten. Sie loszulassen. Sie wegzudenken. Sie am liebsten gleich in Schöneres zu verwandeln.
Die tiefen Erfahrungen des Schmerzes erzeugen wunde Stellen. Es wäre verrückt, bei einer körperlichen Wunde zu versuchen "sie loszulassen" und zu glauben, dass sie im nächsten Moment nicht mehr da ist. Genauso verhält es sich mit der Seele. Erde und Wasser sind eins. Gebt ihnen Ruhe, Trost, Wärme, Raum und Zeit. Erspart ihnen den "2. Pfeil des Leids", den wir jedem realen Schmerz dadurch zufügen, entweder mehr komplizierte Geschichten darum zu stricken oder möglichst schnell geistig von ihm loskommen zu wollen und uns dann auch noch dafür zu verachten, gar nicht loslassen zu können. Meist ist es noch gar nicht an der Zeit. Loslassen erfühlt und erlebt man sich von selbst, man kann es sich nicht erdenken. Es kommt, wenn etwas zuende gefühlt ist und Sinn macht. Nicht wenn wir Rekordler sein wollen und Erfahrungen überspringen. Die 8. Phase hat auch zu tun mit dem Mut, Schmerz anzusehen und zu fühlen, ohne ihn zu verändern. Dann ändert er sich und uns, viel tiefer, als wir vielleicht je gedacht haben.
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